Mit Erstaunen haben wir den Aufruf des Bundesverbandes unter der Überschrift „Raus aus der Isolation! Sommerzeltlager 2020 ermöglichen!“ wahrgenommen. Darin geht es v.a. darum, dass angesichts der Erlaubnis kommerzieller Reiseangebote auch Zeltlager in der Jugendverbandsarbeit ermöglicht werden sollen.
Wir würden dem Bundesvorstand in der Einschätzung zustimmen, dass von den Lockerungen vor allem jene gesellschaftlichen Bereiche profitieren, mit denen Geld verdient werden kann. Während die Individuen ihre Freizeit möglichst in Selbstisolation zu Hause verbringen sollen, feiert das Kapital weiter seine Corona-Partys in Fabriken und Büros. Auch, dass gerade Schulen schrittweise für Abschlussklassen geöffnet werden, hat mehr mit dem Interesse an einem reibungslosen Nachschub an jungen Menschen für Ausbildung, FH und Universität (also für den Arbeitsmarkt) zu tun, als mit einer Sorge um das seelische und geistige Wohl der Kinder und Jugendlichen. Dabei ist wenig überraschend, dass die sozialen Kosten der Krise insbesondere von den Menschen getragen werden, die ohnehin schon gesellschaftlich benachteiligt sind – Obdachlose, Frauen*, Alleinerziehende, Migrant*innen und nicht zuletzt Kinder und Jugendlichen aus armen Verhältnissen. Bis hierhin besteht unter uns Einigkeit.
Mit dem Argument, dass angesichts der monatelangen Isolation zu Hause und dem erneut einsetzenden Schulzwang der „psychosoziale Ausgleich“ der Kinder und Jugendlichen gefährdet sei, wird nun von dem Falken-Bundesvorstand eine Freigabe von Zeltlagern gefordert. Hier spricht unser Bundesvorstand ganz als Anbieter von Ferienfreizeiten, in denen dieser Ausgleich gewährleistet wird.
Ist das alles, was wir dazu zu sagen haben?
Vorrangiges Ziel eines sozialistischen Kinder- und Jugendverbandes kann es nicht sein, sich als Fürsorge-Anbieter zu präsentieren, der hilft, den reibungslosen Schulbetrieb durch ausgleichende Freizeitangebote rasch zu ermöglichen. In Anbetracht der aktuellen Situation ist es vielmehr notwendig, der scheinbaren Normalisierung des Alltags zu widersprechen. Mit den Lockerungen gewinnt nicht nur das wirtschaftliche Leben, sprich Leistungsdruck und Konkurrenz, wieder an Fahrt. Ebenso steigt das Risiko einer Erkrankung an Covid-19. Das Statement des Bundesverbandes schweigt jedoch zu den gesundheitlichen Gefahren ganz im Geist der neuen „Corona-Müdigkeit“. Aus der Stellungnahme spricht der Wunsch, nicht den Anschluss zu verlieren, wenn im Laufgalopp die Lockerungen durch Parlamente gepeischt werden. Wir möchten hier gerne darlegen, inwiefern wir von unserem Bundesvorstand angesichts der aktuellen Lage etwas anderes erwarten, und was.
Es ist immer noch Vorsicht geboten
An der Gefährlichkeit des Virus hat sich seit dem Ausbruch in Deutschland, seit dem partiellen „Lockdown“ und seit dessen überstürzter Lockerung eigentlich nichts geändert. Was sich verändert hat ist, dass wir jetzt mehr über die Übertragungswege wissen und auch etwas mehr über die Krankheit selbst.
So wird derzeit davon ausgegangen, dass das Virus primär über den Weg der Tröpfcheninfektion übertragen wird, die v.a. bei engerem Kontakt stattfinden kann. Diese Erkenntnis ist die wissenschaftliche Grundlage für Kontaktbeschränkungen, Mindestabstand und Maskenpflicht.
Wir wissen außerdem, dass die Krankheit für einen Großteil der Menschen nicht tödlich verläuft. Ein Anteil von 22-43[1] % der Infizierten hat sogar keine Symptome. Das heißt aber nicht, dass wir uns mit Vertrauen auf die Statistik zurücklehnen können. Zum einen ist bisher nicht geklärt, wer im Falle einer Infektion einen schweren und wer einen leichten Krankheitsverlauf zu erwarten hat, auch wenn Alter und Vorerkrankung sicher eine Rolle spielen. Zum anderen ist immer noch wenig bekannt über Verlauf und Langzeitfolgen der Erkrankung. Eine neue Studie der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf hat jetzt ergeben, dass Covid-19 (die durch den Sars-CoV-2 Virus ausgelöste Krankheit) nicht nur die Lunge, sondern gleich mehrere Organe betrifft, nämlich auch Gehirn, Nieren, Herz und Blut. Hier kann es zu dauerhaften Schäden kommen. Auch bei asymptomatischen Personen wurden nach überstandener Erkrankungen bisweilen noch erschreckend niedrige Sauerstoffwerte im Blut gemessen.[2]
Beunruhigend sind zudem die aktuellen Meldungen über eine neue Kinderkrankheit, von der stark vermutet wird, dass sie im Zusammenhang mit dem neuartigen Corona-Virus steht: In einigen wenigen Fällen kann die Infektion neuesten Erkenntnissen zufolge zu einer Erkrankung führen, die dem sogenannten „Kawasaki“-Syndrom ähnelt, einer Überreaktion des Immunsystems, an der Kinder schwer erkranken und sogar sterben können.[3]
Zudem zeigt sich immer deutlicher, dass es eine starke soziale Komponente der Pandemie gibt. Insbesondere strukturell benachteiligte Gruppen sind von der Erkrankung am schlimmsten betroffen. Sie haben ein höheres Risiko, sich mit Covid-19 zu infizieren und gleichzeitig eine höhere Wahrscheinlichkeit, an den Folgen der Erkrankung zu sterben. Armut macht krank, auch und gerade in Zeiten einer globalen Pandemie. Kinder und Jugendliche aus armen Verhältnissen müssen daher besonders vor Infektionen geschützt werden.[4]
Für uns steht daher fest: Angesichts der Pandemie ist weiterhin größte Vorsicht geboten.
Die Lockerungen sind im Interesse der Wirtschaft
Eine vernünftige, nicht nach Maßgabe des Profits eingerichtete Gesellschaft könnte und würde auf eine Pandemie anders reagieren, als es derzeit der Fall ist. Während man in einer Gesellschaft, die auf die Bedürfnisse der in ihr lebenden Menschen ausgerichtet wäre, ohne größere Probleme die Produktion und den gesellschaftlichen Kontakt auf ein geringeres Maß reduzieren könnte, muss in dieser kapitalistischen Gesellschaft die Gesundheitsvorsoge gegen die ökonomischen Kosten, also die ausgefallenen Profite, abgewogen werden.
Entsprechend stellte das deutsche Kapital die Bundesregierung Anfang Mai vor ein Ultimatum[5], um die Einschränkungen wieder zurückzunehmen, damit so bald wie möglich wieder Waren produziert und gewinnbringend abgesetzt werden können. Seit Ostern werden denn auch im Laufschritt viele Einschränkungen wieder zurück genommen, während Virolog*innen und Epidemiolog*innen davor warnen, dass sich das Virus auf diese Weise schnell in ganz Deutschland ausbreiten könnte und bei einem erneuten Anstieg der Infektionen auch diejenigen Landstriche massiv betroffen sein könnten, die bislang eher verschont geblieben sind.[6]
Anstatt diesen Vorgang zu skandalisieren und eigene Akzente zu setzen, reihen sich die Falken nun ein in den allgemeinen Ruf nach einer Rückkehr zur Normalität. Wenn alle anderen wieder so weitermachen können wie vorher, so der Ton, dürfen die Falken dabei nicht auf der Strecke bleiben!
Verbandsroutinen
Damit tun wir es dem Rest der Gesellschaft gleich. Alle Akteure, so der Soziologe Amin Nassehi, treten angesichts der Pandemie so auf, wie sie es sonst tun; alle spielen die Rollen, die sie immer gespielt haben. Die Wirtschaft will Produktion wieder zum Laufen bringen, Gastronomie und Touristik wollen, dass wieder Menschen zirkulieren und konsumieren – und die Falken wollen ihre Zeltlager weiter machen! In der Soziologie nennt man so etwas „Pfadabhängigkeit“ – ist einmal abgesteckt, wohin die Reise gehen soll, geht es immer weiter in dieselbe Richtung.
Nur weil der Rest der Gesellschaft kopflos reagiert und alle auf ihren bornierten Interessen beharren – was eben bedeutet, nicht adäquat auf die Pandemie zu reagieren – sollten wir ihnen das nicht einfach gleichtun. Stattdessen sollten wir die soziale Um- und Vorsicht walten lassen, die unserer sozialistischen Überzeugung gemäß Gesetz der gesamten Gesellschaft sein sollte.
Nun bringen Zeltlager wie alle Kontexte, in denen viele Kinder unterwegs sind, das Problem mit sich, dass Schutzmaßnahmen zur Unterbindung von Infektionsketten nur schwer einzuhalten sind. Abstand halten ist hier kaum möglich und steht sogar entgegen dem Zweck der ganzen Angelegenheit: Dass Kinder und Jugendliche sich ausleben und ihren Interessen nachgehen können, ohne ständig reglementiert zu werden. Die Zeltlager sind damit ebenfalls ein Ort, wo sich Kinder anstecken können und von wo sie Infektionen in ihr familiäres und perspektivisch auch schulisches Umfeld tragen können.
Wir denken, dass Falken einen anderen, verantwortungsbewussten Umgang mit dieser neuen Situation finden können. Das würde dann aber bedeuten, Routinen zu durchbrechen und neue Wege zu beschreiten. Denn die Pandemie ist noch lange nicht vorbei.
Wir wollen:
… dass wir zusammen kreativ werden und situationsadäquate Wege finden, den Kontakt zu den bei uns organisierten Kindern und Jugendlichen aufrecht zu erhalten und dabei das Gesundheitsrisiko auf ein Minimum zu reduzieren.
… dass die Falken ihre Stimme gegen die oben beschriebenen Vorgänge erheben. Wir wollen keine Lockerungen für das Wirtschaftswachstum um den Preis von Krankheit und Tod.
… dass die Falken die Lebensbedingungen der Kinder und Jugendlichen aus der Klasse der Lohnabhängigen skandalisieren. Wir fordern
· eine Öffnung der Schulen nur unter Voraussetzung der Beratung mit den Schüler*innen und bei Aussetzung des Prüfungsbetriebes
· ein Solidarsemester an den Hochschulen
· Arbeitszeitreduktion bei vollem Lohnausgleich für Eltern
· die unbürokratische Sicherstellung des Existenzminimums für alle
· mehr Frauenhausplätze und Notfalleinrichtungen für gefährdete Kinder
… dass die Kinder und Jugendlichen mit ihren Wünschen in der Öffentlichkeit (und auch bei uns) selbst zu Wort kommen
… uns jetzt gemeinsam dagegen organisieren, dass erst die Gesundheitskrise und in absehbarer Zukunft auch die ökonomische Krise auf uns Lohnabhängige abgewälzt werden wird.
Uns ist es wichtig zu betonen, dass wir keinesfalls dafür plädieren, abzuwarten und Tee zu trinken. Gleichzeitig haben wir auch keinen Masterplan, was für die Falken insgesamt gerade zu tun wäre. Wir sind überzeugt davon, dass die Kreisverbände selbst am besten Maßnahmen entwickeln können, die ihren konkreten Anforderungen vor Ort entsprechen und die kollektiv mit den bei uns organisierten Kindern und Jugendlichen entstehen. Wir in Thüringen sammeln zum Beispiel gerade erste Erfahrungen mit Online-Hausaufgabenhilfe, digitalen Arbeitskreisen und Wandertagen in Kleingruppen. Außerdem halten wir es gerade jetzt für wichtig, unsere Erfahrungen mit Genoss*innen zu diskutieren.
Deshalb schlagen wir vor, dass der Bundesvorstand einen Austausch zwischen den Gliederungen organisiert, in dem es darum gehen soll, wie die Falkenarbeit in Zeiten der Pandemie auf neue Füße gestellt werden kann. Wir brauchen neue Ideen, keine eingefahrenen Routinen.
Passt aufeinander auf.
Solidarische Grüße,
Eure Falken Thüringen
[1] Heinsberg-Studie und Testergebnisse der italienischen Gemeinde Vo‘. Siehe https://www.rki.de/…/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html…
[2] Notarzt über Corona: „Wir sehen 30-Jährige ohne Krankengeschichte, die Bilder der Lungen sind beängstigend“, https://www.vrt.be/…/notarzt-ueber-corona-wir-sehen-dreiss…/
[3] Auch deutsche Kinder mit schweren Entzündungsreaktionen, https://www.faz.net/…/corona-auch-deutsche-kinder-mit-schwe…
[4] Covid-19-Arzt im Interview: „Es gibt eine sehr starke soziale Komponente bei dieser Krankheit“, https://www.faz.net/…/covid-19-arzt-es-gibt-eine-sehr-stark…
[5] Wirtschaft fordert Ende des Lockdowns, https://www.tagesschau.de/…/wirtschaft-deutschland-corona-1…, Deutsche Industrie stellt Merkel Corona-Ultimatum, https://www.bild.de/…/corona-krise-deutsche-industrie-stell…
[6] Drosten und Helmholtz-Forscher warnen vor zweiter Corona-Welle, https://m.tagesspiegel.de/…/wir-muessen-extr…/25756090.html…
Unter folgendem Link könnt ihr den ursprünglichen Beitrag des Bundesverbandes finden: https://www.wir-falken.de/aktuelles/meldungen/10840011.html