Nichts ist in Ordnung.

Am 10.07.19 haben die Falken Jena eine Kundgebung am Holzmarkt zum Tod Walter Lübckes und gegen rechte Gewalt verantstaltet. Im Folgenden dokumentieren wir unseren Redebeitrag:

Liebe Anwesende, liebe Freundinnen und Freunde, liebe Genossinnen und Genossen,

am 02. Juni – also vor knapp 5 Wochen – wurde der amtierende Kassler Regierungschef Walter Lübcke auf der Terrasse seiner Wohnung durch einen Kopfschuss hingerichtet. Sein Mörder war, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, der Neonazi Stephan Ernst[1]. Wir sind heute hier zusammengekommen, denn wir trauern um den Verlust, den die Angehörigen und die Familie von Walter Lübcke erlitten haben. Er ist ein weiteres der zahlreichen Todesopfer des rechten Terrors in der Bundesrepublik Deutschland. Er ist einer von mindestens 184 Menschen, die allein seit 1990 in Deutschland von Neonazis getötet wurden[2]. Die Tat stellt auf einer Seite eine Zäsur dar, da sie an einem Repräsentanten des Staates verübt wurde. Sie reiht sich gleichzeitig nahtlos in eine Kontinuität des rechten Terrors ein.

Im Visier rechter AkteurInnen stand Lübcke spätestens seitdem er im Jahr 2015 bei einer Bürgerversammlung den Bau einer Unterkunft für Geflüchtete verteidigte. Er sprach dabei von Werten und sagte: „Wer diese Werte nicht vertritt, hat die Freiheit, dieses Land zu verlassen.” Dies, so Lübcke, sei die Freiheit eines jeden Deutschen[3]. Lübcke erntete für diese Aussage bereits im Saal der Bürgersammlung Buh-Rufe. Nach der Versammlung brach sich die rechte Hetze in sozialen Netzwerken ungefiltert Bahn und wurde durch verschiedene Politikerinnen und Politiker befeuert. Das rechte Portal Politically-Incorrect-News (PI) verbreitete seine Kontaktdaten und Privatadresse. Der Autor Akif Pirinçci nahm Lübckes Äußerung in einer Rede bei PEGIDA als Beispiel für die vermeintliche Ignoranz „der Macht“ gegenüber „dem eigenen Volk“. Lübcke erhielt zahlreiche Morddrohungen und stand zwischenzeitlich unter Polizeischutz[4].

Der Mörder von Walter Lübcke, Stephan Ernst, gehörte zum Umfeld der hessischen NPD und den Autonomen Nationalisten und war bereits mehrfach aufgrund von rassistisch motivierten Gewaltdelikten vorbestraft, u.a. wegen eines versuchten Anschlags auf eine Unterkunft für Geflüchtete mit einer Rohrbombe im Jahr 1993[5]. Nachdem es bislang hieß, dass Stephan Ernst seit 2009 dem Bundesamt für Verfassungsschutz nicht mehr als aktiver Neonazi aufgefallen wäre, liegen nun neue Erkenntnisse darüber vor, dass Ernst noch 2011 Mitglied des neuheidnischen und neonazistischen Vereins “Artgemeinschaft” war[6]. Zudem gibt es Indizien, dass Stephan Ernst Kontakte zum deutschen Ableger des aus Großbritannien stammenden Neonazinetzwerkes Combat 18 pflegte, das sich selbst als »Terrormaschine« der militanten Neonaziszene bezeichnet[7].

Ob Stephan Ernst Einzeltäter war, ist keine Frage, die sich stellt. Dies ist gänzlich unabhängig davon, ob im weiteren Verlauf der Ermittlungen festgestellt werden kann, dass er für die konkrete Tat Unterstützung erhielt. Eine Tat wie die von Stephan Ernst bedarf der vorausgehenden Konstruktion eines Weltbildes, die sie legitimiert. Der Aufbau eines solchen Weltbildes erfolgt in den seltensten Fällen allein im stillen Kämmerlein, sondern ist Ergebnis rechtsterroristischer Strukturen und Organisation.

Diese wiederum entstehen nicht im luftleeren Raum. Sie sind Ausdruck eines gesellschaftlichen Klimas, das rechtsterroristische Anschläge und Morde seit Jahren ermöglicht und legitimiert. Mit diesem Klima hat nach dem Mord an Walter Lübcke kein Bruch stattgefunden. Obwohl wir diese Situation seit Jahren beobachten, haben uns einige der öffentlichen Statements, die nach dem Mord abgegeben wurden, in besonderer Weise fassungslos und wütend zugleich zurückgelassen.

Genannt sei z.B. die Aussage des Bundestagsabgeordnete der AfD Martin Hohmann. Dieser wies einem von der CDU und Angela Merkel befürworteten angeblichen “Massenzustrom an Migranten” die Schuld am Mord von Walter Lübcke zu[8]. Schützenhilfe bekam er dafür vom neuen Präsidenten des Verfassungsschutzes, Thomas Haldenwang. Er leugnete jegliche Verantwortung seiner eigenen Behörde und gab gleichzeitig zu bedenken, dass die Ursachen für das Erstarken rechter Strukturen eher in der Flüchtlings- und Migrationspolitik zu suchen seien[9].

Der sächsische CDU-Parteikollege von Walter Lübcke, Michael Kretschmar schaffte es in Bezug auf die Tat vor einer vermeintlichen Gefahr vor links- und rechtsextremen Kräften zu warnen und berief sich auf einen “gesunden Patriotismus”, den alle Deutschen miteinander leben würden und den er für völlig normal halte[10].

Die Gleichsetzung einer vermeintlichen, aber faktisch nicht vorhandenen tödlichen Bedrohung durch linke Kräfte und der von Rechts-Terroristen verübten Morde und Anschläge, schafft eine groteske Relativierung der Ereignisse. Die Berufung auf einen “gesunden Patriotismus”, den nur die Ränder des politischen Spektrums nicht teilen würden, leugnet jegliche gesellschaftliche Verantwortung für die Tat.

Der “gesunde Patriotismus”, von dem Kretschmar redet, drückt sich währenddessen darin aus, dass laut der Leipziger Mitte-Studie über die Hälfte der Deutschen die Bundesrepublik in einem gefährlichen Maß für überfremdet halten und über ein Viertel der Befragten finden, dass die Darstellung der Verbrechen des Nationalsozialismus in der Geschichtsschreibung weit übertrieben sei[11]. Dies zeigt, wie wenig irgendetwas in diesem Land als “gesund” bezeichnet werden kann.

Das Verhalten der CDU und ihres Abgeordneten macht im Endeffekt vor allem deutlich, wie schlimm die Lage wirklich ist. Denn diese Stimmung in der eigenen WählerInnenschaft ist es, die es opportun macht – nachdem ein Parteikollege hingerichtet wurde – weiter nach rechts zu rücken, statt eine konsequente Aufklärung und Zerschlagung rechtsterroristischer Netzwerke zu forcieren.

Die hämischen Kommentare in den sozialen Medien, über den Mord an Walter Lübcke sowie die zahlreichen weiteren Morddrohungen, die inzwischen bei Politikerinnen und Politikern eingegangen sind[12], sind ein Ausdruck weiterer verbaler Enthemmung. Diese Kommentare zielen auf Einschüchterung und Bedrohung und wir wollen heute einräumen: ja, diese Umstände machen uns Angst. Unsere Wut über die Verhältnisse, mit der die Trauer im Fall von Walter Lübcke gemischt ist, bleibt angesichts dieser Zustände in Deutschland ohnmächtig.

Auch das breite Wissen über rechte Netzwerke, das von Strukturen wie NSU-Watch, Der rechte Rand, Exif, u.a. erarbeitet wurde, bleibt aufgrund gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse politisch weitestgehend konsequenzlos.

Der Unerträglichkeit dieser Situation möchten wir heute Ausdruck verleihen. Sie ist der Grund für unsere Ohnmacht und Verzweiflung und sie ist gleichzeitig der Grund, warum wir nicht aufhören können, gegen diese Zustände vorzugehen. Teil dieser Unerträglichkeit ist es nicht zuletzt, dass uns, aufgrund der stetig neuen hasserfüllten Kommentare sowie grotesken und zynischen Statements zum Mord an Walter Lübcke, jeglicher Moment des Innehaltens genommen wird.

Dieser Situation können wir auch mit der heutigen Kundgebung nicht viel entgegensetzen. Deshalb bleibt uns heute nichts anderes übrig, als unserer Wut und Trauer allein dadurch Ausdruck zu verleihen, die gesellschaftliche Situation, die Morde wie den an Walter Lübcke tagtäglich ermöglicht, zu skandalisieren. Da uns ein Moment des Eingedenkens vor diesen Umständen kaum möglich erscheint, möchten wir diese Veranstaltung ohne eine symbolische Schweigeminute beenden. Wir möchten jedoch im Anschluss an diesen Redebeitrag das Angebot machen, sich mit den Umstehenden und Teilnehmenden auszutauschen.

Zu diesem Zweck werden wir die Kundgebung noch eine Weile aufrechterhalten.


[1]https://www.hessenschau.de/politik/stephan-ernst-hat-mord-an-luebcke-gestanden,luebcke-mord-gestaendnis-100.html

[2]https://opfer-rechter-gewalt.de

[3]https://www.youtube.com/watch?time_continue=2&v=KdnLSC2hy9E

[4]https://taz.de/Drohungen-gegen-Walter-Luebcke/!5604270/

[5]https://exif-recherche.org/?p=6218

[6]https://www.welt.de/politik/deutschland/article196039643/Mordfall-Luebcke-Taeter-tauchte-noch-2011-im-Umfeld-von-Neonazi-Truppe-auf.html

[7]https://exif-recherche.org/?p=6284

[8]https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/afd-abgeordneter-sieht-cdu-mitschuld-am-tod-luebckes-16253407.html

[9]https://www.zdf.de/nachrichten/zdfspezial/zdf-spezial—mordfall-luebcke–waffenfunde-und-weitere-verhaftungen-clip-4-100.html

[10] https://twitter.com/cdusachsen/status/1140950916763475968

[11]https://www.boell.de/sites/default/files/leipziger_autoritarismus-studie_2018_-_flucht_ins_autoritaere_.pdf?dimension1=ds_leipziger_studie

[12]https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/seehofer-zu-fall-luebcke-anschlag-gegen-uns-alle-gerichtet-16242608.html

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